Henrik Schwiedeßen: Die NAKO-Gesundheitsstudie untersucht, wie individuelle und gesellschaftliche Faktoren die Gesundheit beeinflussen. Konnte man Zusammenhänge zwischen diesen Faktoren und Herz-Kreislauf-Erkrankungen sowie Diabetes erkennen?
Dr. Jasmin Kiekert: Die NAKO ist die größte Gesundheitsstudie in Deutschland, eine Langzeitstudie mit mehreren Untersuchungsphasen, bei der wir die zweite Phase erst Mitte des letzten Jahres bgeschlossen haben. Somit haben wir erst jetzt aussagekräftige Daten, um diese wichtigen Fragen genauer zu erforschen. Die Erhebung der Daten und deren Auswertung sind zwei unterschiedliche Schritte. Dennoch können wir im Hinblick auf Ernährung, auf Herz-Kreislauf- Erkrankungen und auf Diabetes sehen, dass gesellschaftliche Faktoren wie Bildung und Einkommen einen Einfluss auf die Ernährung haben – und somit auch auf die Gesundheit. Wir haben durch die NAKO-Studie die Möglichkeit, Ergebnisse aus körperlichen und Laboruntersuchungen zum Beispiel mit den Angaben zu Bildung und Einkommen in Verbindung setzen zu können, was uns erste Hinweise darauf liefern kann.
Henrik Schwiedeßen: Welche Untersuchungen sind besonders sinnvoll, um das Risiko für Volkskrankheiten frühzeitig zu erkennen?
Dr. Jasmin Kiekert: Die klassischen Gesundheitschecks beim Hausarzt bieten eine gute Grundlage, gerade im Hinblick auf eine frühzeitige Erkennung beispielsweise des Metabolischen Syndroms oder anderer Erkrankungen mit großem Risikopotenzial, etwa einer beginnenden Nierenerkrankung. Des Weiteren sind die Vorsorgeuntersuchungen im Bereich der Krebserkrankungen zu nennen, insbesondere, aber nicht nur, wenn in der Familie bereits Krebserkrankungen aufgetreten sind. Dies gilt für Männer und Frauen in gleichem Maße. Denn je früher eine Erkrankung erkannt wird oder sie sich andeutet, umso mehr Möglichkeiten bestehen, der weiteren Entwicklung der Erkrankung vorzubeugen oder ihr aktiv entgegenzuwirken. Wir hoffen, dass wir durch die NAKO-Gesundheitsstudie auch im Bereich der Früherkennung durch verfeinerte Analyseverfahren einen wichtigen Beitrag für zukünftige Vorsorgeverfahren leisten können.
Henrik Schwiedeßen: Wie sehr beeinflussen die Gene das Risiko für Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen?
Prof. Dr. Anna Köttgen: Wir wissen inzwischen, dass es sich bei Typ-2-Diabetes und bei vielen Herz-Kreislauf-Erkrankungen um so genannte komplexe Erkrankungen handelt, deren Risiko sowohl vom individuellen Lebensstil als auch von vielen verschiedenen Genen beeinflusst wird. Die NAKO ist ideal dafür geeignet, um wichtige Daten aus Deutschland zur Beantwortung dieser Frage zu liefern. Wir sind sehr froh, dass wir neben einer umfangreichen Erfassung von Lebensstil und Umweltfaktoren genetische Untersuchungen durchführen dürfen und können. In Bezug auf Diabetes Typ 2 gibt es ähnlich große Studien in anderen Ländern, deren Ergebnisse darauf hindeuten, dass der genetische Einfluss bei rund zwanzig Prozent liegt. Solche Schätzungen können aber je nach untersuchter Bevölkerungsgruppe und den jeweiligen Lebensstilfaktoren stark variieren, daher sind die NAKO-Untersuchungen so bedeutsam. Wichtig ist zu erwähnen, dass auch bei einer vererbten Veranlagung für Typ-2-Diabetes eine Änderung des Lebensstils, etwas mehr körperliche Aktivität oder der Nikotinverzicht, einen positiven Einfluss hat.
Henrik Schwiedeßen: Aufklärungskampagnen und öffentliche Gesundheitsprogramme versuchen, das Bewusstsein für Prävention zu stärken. Wie wirksam sind solche Maßnahmen, und was könnte verbessert werden, um die Bevölkerung besser zu erreichen?
Dr. Jasmin Kiekert: Präventive Maßnahmen richten sich an das Individuum, an jeden Einzelnen und jede Einzelne. Ich glaube, dass viele Menschen wissen, wie gesunde Ernährung aussehen sollte, diese Maßnahme jedoch aufgrund individueller Faktoren häufig im Alltag nicht umgesetzt werden kann. Einerseits spielen ökonomische Faktoren eine Rolle, aber auch die Organisation unseres Alltages hat sich verändert. Kochen mit frischen Zutaten hat bei Vollberufstätigkeit nach einem langen Arbeitstag oft keine hohe Priorität mehr. Die permanente Verfügbarkeit von leeren Kalorien, von viel Zucker und Fett, ist verführerisch. Doch letztlich ist sie teuer: Den Preis zahlen die Menschen, die dadurch krank werden, deren Lebensqualität damit eingeschränkt wird. Doch auch die Gesellschaft zahlt einen hohen Preis, nämlich mit der Finanzierung des Gesundheitswesens. Wenn Sie mich fragen, wie wir Menschen besser erreichen können, dann, indem wir ein Bewusstsein für den nicht-monetären Preis unseres Lebensstils schaffen. Des Weiteren können wir junge Menschen mittels Social Media für diese Themen sensibilisieren und Präventionsangebote und Aufklärung auch in Fremdsprachen vermehrt zur Verfügung stellen. Außerdem könnten Krankenkassen Anreize für ein gesundes Verhalten schaffen.
Henrik Schwiedeßen: Alkoholkonsum wird oft unterschätzt, kann aber die Entstehung von Herz- Kreislauf-Erkrankungen begünstigen. Welche Mengen gelten als gesundheitlich unbedenklich und wo beginnt ein gesundheitsschädlicher Konsum?
Dr. Jasmin Kiekert: Wie bei allem gilt es, Maß zu halten. Ein bewusster Alkoholkonsum ist jedoch ganz besonders im Hinblick auf das Diabetes-Risiko wichtig. Die Blutzuckerwerte steigen durch den Konsum von Alkohol an und können zu einer Schädigung der Nerven beitragen. Alkohol wirkt sich negativ auf die Leber aus und kann bei hohem Konsum zu einer alkoholbedingten Fettleber führen, die in eine Leberzirrhose übergehen kann. Die neuesten Studien weisen darauf hin, dass es keine gesundheitlich ganz unbedenkliche Menge Alkohol gibt. Lassen Sie mich noch kurz auf das Herz und die Herzgesundheit eingehen, wobei hier auch no ch viele Fragen offen sind. Der Rhythmus des Herzens wird durch elektrische Impulse gesteuert. Nach aktuellem wissenschaftlichem Stand verändert Alkohol die Leitungseigenschaften des Organs. Das Herz wird im Hinblick auf die elektrischen Impulse instabiler, Vorhofflimmern und weitere Störungen des Herzrhythmus können sich entwickeln. Sogar kleine Mengen Alkohol können, wenn sie regelmäßig konsumiert werden, ein solches Vorhofflimmern begünstigen. Alkohol führt insgesamt zu einer Vergrößerung des Herzens bei gleichzeitiger Schwächung der Pumpleistung.
Henrik Schwiedeßen: Langzeitstudien wie die NAKO-Gesundheitsstudie liefern wichtige Daten für die Präventionsforschung. Wie können diese Daten konkret genutzt werden, um Volkskrankheiten besser vorzubeugen?
Dr. Jasmin Kiekert: Vorbeugung beginnt mit dem Wissen um den schädlichen Einfluss äußerer Faktoren, das heißt des Lebensstils. Darüber hinaus sind genetische Faktoren, wie bereits erwähnt, von Relevanz. Je mehr wir darüber erfahren, in welchen Zeiträumen sich Veränderungen im Körper entwickeln, umso zielgerichteter lassen sich Aussagen und Prognosen zu Verläufen von Erkrankungen gesichert treffen – und punktgenaue vorbeugende Maßnahmen entwickeln. Wir können die Daten nutzen, um beispielsweise mehr Informationen über das Ausmaß an Bewegung, über das Gewicht, aber auch über genetische Veranlagung in der Früherkennung lebensverändernder Erkrankungen zu gewinnen. Im europäischen Vergleich bewegen wir uns in Deutschland leider nur im Mittelfeld, was effektive Präventionsmaßnahmen angeht. Andere Länder, wie die skandinavischen Staaten oder auch Großbritannien, sind hier deutlich weiter.
Henrik Schwiedeßen: Welche innovativen Technologien gibt es bereits, um das Risiko für Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu minimieren?
Prof. Dr. Anna Köttgen: Es gibt inzwischen viele Apps zur Förderung von gesundem Verhalten. Schon eine Schrittzähler-App kann als Ansporn für mehr körperliche Bewegung dienen. Aber auch im Bereich Sport und Ernährung gibt es eine Vielzahl digitaler Anwendungen, die zu einer Verhaltensänderung motivieren können, um damit gesundheitliche Risiken zu minimieren. In der NAKO untersuchen wir bei einem Teil der Teilnehmenden ebenfalls zusätzliche Technologien, zum Beispiel ein Akzelerometer zur Erfassung der körperlichen Aktivität oder einen mobilen Sensor, der den Zuckerspiegel im Blut kontinuierlich erfassen kann. Es ist eines der erklärten Ziele der NAKO, zu erforschen, wie der Einsatz solcher Technologien einen Beitrag zur Prävention von Volkskrankheiten leisten kann.
Henrik Schwiedeßen: Soziale Faktoren wie Einkommen, Bildung und Wohnverhältnisse beeinflussen die Gesundheit maßgeblich. Wie können politische und gesellschaftliche Maßnahmen dazu beitragen, gesundheitliche Ungleichheiten zu reduzieren?
Dr. Jasmin Kiekert: Ich glaube, dass es zunächst ein Bewusstsein dafür geben muss, dass es diese Ungleichheiten überhaupt gibt. Lassen Sie mich ein Beispiel nennen: Der fettreiche Schweinebraten, ein Kilo für 7,99 Euro beim Discounter im Angebot, ist im Vergleich zum Rumpsteak vom regionalen Metzger für 34,99 Euro pro Kilo schon ein wesentlicher Anhaltspunkt. Mit „gutem“ Fleisch ist ein Preis assoziiert, den man sich leisten können muss. Viele Fertiggerichte, Tiefkühl-Pizzen, Pommes und Ähnliches, sind günstig, aber aufgrund eines hohen Zucker- und Kohlenhydratgehalts sehr ungesund. Frischer Fisch und Käse sind bei guter Qualität deutlich teurer als Tiefkühlware oder verpackt aus dem Selbstbedienungsbereich. Frisches Obst und Gemüse sind nicht nur teurer geworden, sondern sie müssen ja auch zubereitet werden – und man muss wissen, wie man sie zubereitet. Gleichzeitig dürfen die kulturellen Aspekte nicht außer Acht gelassen werden. Hier gibt es Unterschiede in der Zubereitung der Speisen, wie etwa das Frittieren, die zu berücksichtigen sind und sensibel thematisiert werden müssen.
Henrik Schwiedeßen: Gesetzliche Vorgaben und gesundheitspolitische Initiativen können das Verhalten der Bevölkerung beeinflussen. Welche politischen Maßnahmen könnten dazu beitragen, die Prävention von Volkskrankheiten zu stärken?
Dr. Jasmin Kiekert: Für mich persönlich würde beispielsweise eine Zuckersteuer, wie sie in Großbritannien bereits 2018 eingeführt wurde, dazu führen, dass Soft- und Energydrinks deutlich weniger konsumiert werden. In einer Studie aus dem Jahr 2023 hat sich gezeigt, dass durch eine solche Zuckersteuer tausende Typ-2-Diabetes-Fälle verhindert werden können. Lassen Sie es mich so ausdrücken: Süß muss unattraktiver werden und dies kann durch deutlich höhere Preise funktionieren. Gleichzeitig ist es wichtig, bereits in den Kitas und Schulen das Thema Gesundheit zu verankern und entsprechende Angebote in den Unterricht zu integrieren. Eine gesundheitspolitische Initiative sollte in ein gesamtpolitisches Konzept integriert sein, das über den Bereich Gesundheit hinausgeht und auch soziale Faktoren wie Bildung und Einkommen mit in die Betrachtung einbezieht.
Henrik Schwiedeßen: Das war ein sehr ausführliches und informatives Interview. Vielen Dank hierfür.
Dr. Jasmin Kiekert: Sehr gerne. Über dieses Thema sollte man sehr ausführlich und aufklärend sprechen.