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Heilung beginnt im Kopf

 | Henrik Schwiedeßen

Der Placebo-Effekt ist weit mehr als eine medizinische Randerscheinung – er zeigt, wie eng Körper und Geist miteinander verknüpft sind. Im Gespräch mit Prof. Dr. Stefan Schmidt wird deutlich, wie Erwartungen, Kommunikation und Umgebung physiologische Veränderungen bewirken können. Der Psychologe und Placebo-Forscher beleuchtet eindrucksvoll, warum "nichts" manchmal eine heilende Wirkung entfalten kann – und welche Rolle dabei Achtsamkeit, Beziehung und Sinngebung spielen.

Henrik Schwiedeßen

Für Henrik Schwiedeßen steht der Mensch – und die Menschlichkeit – im Mittelpunkt jeder gesundheitlichen Entwicklung. Auf dem Weg zu einem gesunden Leben ist Kommunikation weit mehr als nur Informationsvermittlung: Sie schafft Verbindung, Vertrauen und ist der Grundstein für Gesundheit.
Als Gründer von valebis – Kommunikation für Gesundheit bringt er seine langjährige Erfahrung aus leitenden Positionen in renommierten Agenturen in Freiburg ein. Henrik Schwiedeßen ist spezialisiert auf Gesundheitskommunikation und bereitet medizinische Inhalte verständlich, empathisch und strategisch fundiert auf – für Fachkreise wie auch für Patient:innen.
Mit seiner Expertise begleitet er Unternehmen der Gesundheitsbranche dabei, ihre Kommunikation glaubwürdig, menschlich und wirkungsvoll zu gestalten

Henrik Schwiedeßen: Herr Professor Schmidt, der Placebo-Effekt kann reale psychologische Veränderungen im Körper hervorrufen. Welche wissenschaftliche Erklärung gibt es dafür, dass Placebos ohne pharmakologisch aktive Substanzen dennoch messbare Effekte im Körper auslösen können?

Prof. Dr. Stefan Schmidt: Ja, das ist eine gute Frage. Wenn man ein rein biochemisches, mechanistisches Weltbild hat, wie es die Medizin lange Zeit bevorzugt hat, dann lässt sich dieser Effekt schwer erklären. Denn eigentlich gibt man ja "nichts" und trotzdem passiert etwas.

Aber wenn man den Menschen als psychosomatisches Wesen betrachtet, in dem Geist und Körper untrennbar verbunden sind, dann ergibt es mehr Sinn. Nehmen wir ein Beispiel: Jemand leidet an einer Depression und bekommt ein neues, vielversprechendes Medikament verschrieben. Das löst Hoffnung aus – und diese Hoffnung bewirkt eine Veränderung. Das passiert auf mentaler Ebene, aber weil unser Geist und unser Körper eine Einheit sind, zeigt sich diese Veränderung auch körperlich.

Die moderne Sichtweise der "Embodied Cognition" geht davon aus, dass Gedanken und Körperreaktionen eng miteinander verwoben sind. Eine strikte Trennung zwischen Körper und Geist ist da nicht mehr haltbar. Und wenn man dieses Weltbild annimmt, dann ist es nicht mehr so schwer zu erklären, warum eine "Gabe von Nichts" trotzdem eine physiologische Veränderung auslösen kann. Wer sich hingegen streng an die Biochemie hält, für den bleibt es ein Rätsel.

Henrik Schwiedeßen: Spannend! Sie haben gerade das Stichwort "positive Erwartung" erwähnt. Der Glaube an die Wirksamkeit einer Behandlung kann den Placebo-Effekt verstärken. Wie beeinflusst die Erwartung der Patienten den Erfolg einer Therapie? Und welche Rolle spielt die Kommunikation zwischen Arzt und Patient dabei?

Prof. Dr. Stefan Schmidt: Der menschliche Organismus ist ein einziges Erwartungsmanagementsystem. Warum? Weil wir auf Überleben programmiert sind, und es hilft uns enorm, wenn wir voraussehen können, was als Nächstes passiert. Unser kognitives System ist ständig damit beschäftigt, Erwartungen zu generieren und damit die Welt vorhersehbarer zu machen.

Wenn eine Erwartung dann nicht eintrifft, kann das zu starken Reaktionen führen, denn Unvorhergesehenes empfinden wir oft als bedrohlich. Und genau deshalb findet eine erwartete Veränderung auch so schnell ihren Weg in den Körper.

Jetzt zur Kommunikation: Alles, was unsere Erwartungen beeinflusst, kann in der Therapie gezielt genutzt werden. Wenn ich zum Beispiel in einer tiefen Depression stecke, dann erwarte ich, dass es mir immer schlechter geht. Wenn nun ein Gespräch oder eine Therapie mir Hoffnung gibt und ich plötzlich denke: "Vielleicht wird es doch besser", dann schaue ich anders auf die Welt. Das kann eine positive Kettenreaktion auslösen.

Dabei muss diese Erwartung nicht zwangsläufig aus der Kommunikation kommen. Aber wenn ein Arzt oder Therapeut sich dessen bewusst ist, kann er gezielt mit der Sprache arbeiten. Die Placebo-Forschung zeigt: Die Erwartung ist eine messbare Variable, aber noch wichtiger ist die Bedeutung, die jemand einem bestimmten Ereignis zuschreibt.

Ein Beispiel: Ein depressiver Patient führt ein Gespräch mit seinem Arzt. Wenn dieses Gespräch für ihn bedeutsam und sinnstiftend ist, kann es etwas in ihm verändern. Ist es für ihn hingegen belanglos, passiert nichts. Das zeigt, dass nicht nur die Erwartung zählt, sondern auch die Frage: "Ergibt das für mich Sinn?"

Henrik Schwiedeßen: Ein bekanntes Phänomen ist, dass selbst dann, wenn Patienten wissen, dass sie ein Placebo erhalten, es dennoch wirken kann. Welche Erkenntnisse gibt es über die Wirkung von offenen Placebo-Gaben?

Prof. Dr. Stefan Schmidt: Das war tatsächlich eine der großen Überraschungen der letzten Jahre! Man dachte lange, dass die "täuschende" Komponente des Placebos entscheidend ist. Doch Studien zeigen, dass selbst wenn Patienten wissen, dass sie ein Placebo bekommen, es trotzdem wirkt.

Der Schlüssel liegt auch hier in der Kommunikation. Die Patienten bekommen nicht einfach nur gesagt: "Das ist ein Placebo." Meistens wird erklärt, dass Placebos sehr mächtig sind, dass sie bereits vielen Menschen geholfen haben und dass sie durch Mind-Body-Effekte ganz automatisch wirken. Oft wird auch betont, dass man nicht einmal daran glauben muss, aber eine regelmäßige Einnahme wichtig ist.

Studien zeigen, dass diese narrative Begleitung einen großen Unterschied macht. Meiner Meinung nach funktioniert das offene Placebo, weil Menschen mittlerweile wissen, dass Placebos wirken. Ich nenne das manchmal "den Placebo Effekt des Placebo-Effekts" – weil wir als Gesellschaft den Placebo-Effekt so sehr verinnerlicht haben, dass er selbst dann funktioniert, wenn er offengelegt wird.

Dadurch kann ich das Placebo auch offen als wirksam präsentieren, ich muss nicht mehr täuschen und kann offen und ehrlich kommunizieren. Wenn Sie jetzt noch eine private Spekulation von mir hören wollen, die wissenschaftlich nicht belegt ist: Ich glaube, dass dieses ambivalente Spannungsfeld eine große Rolle spielt. Also dieses "Hey, ich nehme etwas, das eigentlich nichts enthält, aber vielleicht wirkt es ja trotzdem. Eigentlich glaube ich nicht daran, aber ich kann es ja mal ausprobieren" – da steckt ein Schwanken drin, eine ambivalente Haltung, die Neugier auslöst. Ich glaube, genau diese Ambivalenz hat eine Wirkung, die eine ganz eindeutige Aussage vielleicht gar nicht hätte. Dieses Spiel mit dem Spielraum sozusagen. Aber wie gesagt, das ist nicht wissenschaftlich belegt – es ist mehr eine Intuition aus dem, was ich beobachte, auch im Bereich der Naturheilverfahren. Da gibt es ja oft ähnliche Phänomene.

Das heißt, auf diese Weise werden dann schon Selbstheilungskräfte aktiviert. Besonders spannend ist ja, dass der Placebo-Effekt gerade in der Schmerztherapie besonders ausgeprägt ist.

Prof. Dr. Stefan Schmidt: Ja, genau.

Henrik Schwiedeßen: Warum reagieren Schmerzpatienten oft stärker auf Placebos? Welche Mechanismen im Gehirn sind dafür verantwortlich?

Prof. Dr. Stefan Schmidt: Warum genau Placebos bei Schmerzen so gut wirken, ist schwer zu sagen – aber woran es liegt, das können wir ganz gut erklären. Wir haben ein endogenes Schmerzregulationssystem, ein Überlebenssystem. Vielleicht kennen Sie Berichte von Unfallopfern, die in der ersten Phase nach dem Unfall gar keinen Schmerz spüren. Ihr Körper flutet sie mit euphorischen Stoffen, sodass der Schmerz zunächst komplett ausgeblendet wird.

Das funktioniert über körpereigene Morphine, sogenannte Endorphine, die in solchen Situationen ausgeschüttet werden. Moderne Schmerzmedikamente setzen genau an diesen Rezeptoren an – sie imitieren das körpereigene Schmerzsystem. Und genau hier greift der Placebo-Effekt. Wenn wir es schaffen, die richtige Bedeutung oder Erwartung zu erzeugen, können wir dieses körpereigene System aktivieren. Das lässt sich auch chemisch belegen: Es gibt einen Stoff namens Naloxon, der die Rezeptoren für das körpereigene Schmerzsystem blockiert. Wenn man Naloxon verabreicht und dann eine Placebo-Behandlung durchführt, funktioniert der Placebo-Effekt nicht mehr. Das zeigt deutlich, dass körpereigene Regulationsmechanismen beteiligt sind. Und das ist nur eines von mehreren körpereigenen Systemen, die bei Medikamenten – aber eben auch bei Placebos – eine Rolle spielen.

Henrik Schwiedeßen: Vielen Dank! Die Umgebung und das Setting einer Behandlung können den Placebo-Effekt beeinflussen. Inwiefern tragen die Gestaltung der Räumlichkeiten und die Atmosphäre in Ihrem Studienzentrum an der Uniklinik Freiburg dazu bei, das Wohlbefinden der Teilnehmer zu fördern?

Prof. Dr. Stefan Schmidt: Also, wir selbst arbeiten gar nicht so sehr mit Raumgestaltung vor Ort, aber ich würde das Thema gerne grundsätzlicher betrachten. Eine der ersten Studien dazu stammt aus den 1980er-Jahren. Ein junger Forscher in den USA hat damals untersucht, wie lange Patienten nach einer Standard-Operation im Krankenhaus bleiben und wie viel Schmerzmittel sie benötigen. Er hat die Patienten in zwei Gruppen eingeteilt: Die einen hatten ein Fenster mit Blick auf den Parkplatz, die anderen auf einen Park. Und – wenig überraschend – diejenigen mit Blick ins Grüne benötigten signifikant weniger Schmerzmittel und konnten früher entlassen werden.

Diese Studie war ein erster Hinweis darauf, dass die Umgebung Einfluss auf den Heilungsprozess hat. Das merken wir ja auch im Alltag: Wenn wir nach einer stressigen Zeit Erholung suchen, wissen wir genau, welche Umgebung uns guttut. Räume, die Ruhe, Frieden und Sicherheit ausstrahlen, stärken unsere Selbstheilungskräfte.

Das ist auch die große Herausforderung in modernen Kliniken. Unsere Medizin ist stark mechanistisch ausgerichtet – es geht oft um Medikamente, technische Geräte, klar standardisierte Abläufe. Ob der Patient in einem roten oder grünen Raum liegt, scheint da zweitrangig. Ich glaube, dadurch geht viel Heilungspotenzial verloren, weil sowohl die Kommunikation als auch die räumliche Gestaltung oft nicht optimal sind.

International gibt es aber spannende Ansätze, die das anders machen. Ich habe eine Klinik in Portugal besucht, die ein optimales Krankenhaus-Setting entworfen hat – finanziert von einer Stiftung, die wirklich mal überlegt hat: Was kann man tun, um Heilung bestmöglich zu unterstützen? Und ich selbst war an einer Initiative beteiligt, die sich mit einem sogenannten "Optimal Healing Environment" beschäftigt hat. Da ging es um alles – von der Beziehungsgestaltung und Kommunikation über Körperkontakt bis hin zur Architektur. Ein einfaches Beispiel: Ein Stuhl neben dem Bett, damit der Arzt mit der Patientin auf Augenhöhe spricht, anstatt von oben herab. Solche Kleinigkeiten können große Wirkung haben.

Ich glaube, mit relativ wenig finanziellem Aufwand könnte man viel für die Heilung tun – wahrscheinlich sogar mehr als mit manch teurem Großgerät. Ich sage das jetzt mal etwas zugespitzt, aber ich denke, Sie verstehen, was ich meine.

Henrik Schwiedeßen: Das ist richtig, ja. Ich bleibe weiterhin beeindruckt, denn der Placebo-Effekt beschränkt sich nicht nur auf Tabletten, sondern tritt auch bei Scheinoperationen und Therapien auf. Das hatten wir vorhin ja schon angedeutet.

Prof. Dr. Stefan Schmidt: Ja.

Henrik Schwiedeßen: Welche Beispiele gibt es für Placebo-Wirkungen außerhalb der klassischen Pillenvergabe, und welche Implikationen hat das für die Medizin?

Prof. Dr. Stefan Schmidt: Mhm, also man fragt sich natürlich auch: Wie wird ein Medikament verabreicht? Man weiß zum Beispiel, dass eine Injektion einen stärkeren Effekt hat als eine Tablette. Es gibt da auch spannende kulturelle Unterschiede bezüglich der Frage, welche Behandlungsform genau mit Heileffekten assoziiert wird. Interessant ist auch, dass es Placeboeffekte bei Operationen geben kann. Das heißt,  dass manche Operationen möglicherweise gar nicht über den mechanischen Eingriff selbst wirken, sondern über das Ritual der Operation.

Die Studie von Mosley et al. Aus den USA untersuchte Arthrose im Knie. Eine der gängigen Behandlungen ist das Ausschaben des Gelenks. Die Forscher waren sich aber unsicher, ob dieser Eingriff wirklich den gewünschten Effekt hat. Also führten sie drei verschiedene Operationen durch: Die erste war die klassische Methode, bei der das Gelenk ausgeschabt wurde. Die zweite bestand nur aus einem Schnitt und einer Spülung des Gelenks, ohne Ausschaben – die sogenannte Lavage. Bei der dritten wurde lediglich eine leichte Betäubung durchgeführt, ein kleiner Schnitt gesetzt, aber sonst nichts weiter gemacht.

Das Überraschende: Alle drei Gruppen verbesserten sich leicht, aber es gab keine Unterschiede zwischen ihnen. Das deutet darauf hin, dass nicht die mechanische Behandlung des Gelenks zum Effekt führte, sondern das Ritual der Operation an sich.

Das sieht man übrigens auch bei Herzoperationen. Man hat beispielsweise früher häufiger Bypass-Operationen gemacht, dann aber im Nachhinein festgestellt, dass der Bypass oft wieder zugefallen ist – und dennoch ging es den Patienten nach der OP besser als zuvor. Eine OP kann man ja auch als mächtiges Heilritual betrachten: Ein "großer Magier im weißen Mantel" versetzt den Patienten in einen heilsamen Tiefschlaf, aus dem er als geheilter Mensch wieder erwacht. Das generiert natürlich viel positive Erwartungen und es steckt auch eine gewisse Mystik drin.

Und genau das ist der Punkt: Unsere moderne Medizin ist immer mit Ritualen, Symbolen und Machtausübung verbunden. Wir tragen heute vielleicht keine geschnitzten Masken mehr, aber stattdessen weiße Kittel und ein Stethoskop – und auch die signalisieren Autorität, Heilung und Sicherheit. Diese Faktoren spielen eine große Rolle in der ärztlichen Interaktion.

Henrik Schwiedeßen: Der Weißkittel-Effekt?

Prof. Dr. Stefan Schmidt: Ja, genau.

Henrik Schwiedeßen: Der Nocebo-Effekt ist die negative Kehrseite des Placebo-Effekts. Negative Erwartungen oder Ängste können dazu führen, dass Patienten verstärkte Nebenwirkungen erleben oder sich ihr Zustand sogar verschlechtert.

Prof. Dr. Stefan Schmidt: Ja, das ist im Prinzip dasselbe Modell – nur in die andere Richtung. Ich denke, das kennt jeder: Wenn ich Angst habe, eine Erkältung zu bekommen, spüre ich plötzlich ein Kratzen im Hals. Ich achte intensiver auf meinen Körper, bekomme Sorgen – und schon scheint sich mein Zustand zu verschlechtern. Das funktioniert auch mit Rückenschmerzen: Wenn ich mich darauf fokussiere, stelle ich fest, dass mein Rücken ebenfalls wehtut. Man kann sich so ziemlich schnell in eine negative Spirale begeben.

Wir wissen auch, dass eine intensive Beschäftigung mit Krankheiten solche Sorgen verstärken kann. Medizinstudierende haben beispielsweise oft eine Phase, in der sie hypochondrisch werden und glauben, alle Krankheiten zu haben, die sie gerade lernen. Das trifft sicher nicht auf alle zu, aber auf viele.

Es gibt zudem sehr beeindruckende Nocebo-Effekte, die weit über das Triviale hinausgehen – bis hin zu plötzlichen Todesfällen. Eine der faszinierendsten Studien zeigt, dass chinesischstämmige Menschen in den USA häufiger am vierten Tag des Monats sterben als an anderen Tagen. In vielen asiatischen Sprachen klingt das Wort für "vier" ähnlich wie das Wort für "Tod" – so wie bei uns die 13 als Unglückszahl gilt, ist es dort die 4. Viele Gebäude haben keine vierte Etage, Züge keinen vierten Wagen. Man spricht von Tetraphobie. In einer Studie wurde untersucht, an welchem Tag asiatischstämmige und nicht-asiatischstämmige Patienten in einem kalifornischen Krankenhaus verstarben. Dabei stellte man fest, dass überzufällig viele asiatische Patienten am vierten Tag des Monats starben – vermutlich, weil sie tief verwurzelt daran glaubten, dass dieser Tag Unglück bringt. Man kann sich das gut vorstellen: Ein Patient liegt mit einer schweren Herz- oder Krebserkrankung in der Klinik, kämpft ums Überleben – und weiß, dass morgen der vierte ist. Da braucht es nicht viel, um den letzten Lebensmut zu verlieren.

Henrik Schwiedeßen: Vertrauen in den Behandler und die Therapie spielt eine zentrale Rolle für die Wirksamkeit von Placebos. Wie wichtig ist die Beziehung zwischen Studienärzten und Teilnehmern in der klinischen Forschung an der Uniklinik Freiburg, und wie wird sie gezielt gestaltet? Wobei ich in diesem Zusammenhang sagen muss, dass das nicht nur auf Studien beschränkt ist, sondern die Arzt-Patienten-Beziehung generell betrifft.

Prof. Dr. Stefan Schmidt: Da hat sich in den letzten Jahren viel verändert. Man hat erkannt, wie wichtig diese Beziehung ist. Früher wurde das im Medizinstudium kaum thematisiert, heute ist es zentraler Bestandteil der Ausbildung. In der Psychosomatik unterrichten wir das auch aktiv – zum Beispiel mit Schauspielpatienten. Die angehenden Ärztinnen und Ärzte führen mit ihnen Gespräche und erhalten direktes Feedback, um typische kommunikative Fallstricke zu erkennen.

Es gibt auch spezielle Module, etwa zur Überbringung schlechter Nachrichten – zum Beispiel, wenn eine Krebsdiagnose vermittelt werden muss. Inzwischen wird das sogar in Prüfungen berücksichtigt: Medizinstudierende müssen mit Schauspielpatienten kommunizieren und zeigen, wie sie in schwierigen Gesprächssituationen agieren.

Aber letztlich darf man nicht vergessen: Unser medizinisches System beeinflusst das alles stark. Stress und Empathie passen nicht gut zusammen. Mit meinen Kindern kann ich sehr empathisch sein – aber wenn wir pünktlich auf den Bus müssen und sie trödeln, dann schwindet mein Mitgefühl und ich werde eher hart. So ist es auch in der Medizin: Wenn Ärztinnen und Ärzte unter Zeitdruck stehen, leidet die Empathie, und dann entstehen genau die belastenden Erlebnisse und gescheiterten Kommunikationen, von denen viele Patienten berichten.

Henrik Schwiedeßen: Ja.

Prof. Dr. Stefan Schmidt: Genau, das ist ein Schlüsselfaktor: Zeit. Und interessanterweise ist Zeit die Ressource, die wir in der Medizin am wenigsten haben – obwohl wir viele andere Ressourcen zur Verfügung haben. Aber aus der Placebo-Forschung wissen wir eindeutig: Wenn ein Arzt vor einer Operation entweder drei Minuten mit einem Patienten spricht oder sich eine Viertel Stunden Zeit nimmt, dann erholt sich der Patient schneller, wenn vorher länger mit ihm gesprochen wurde. Die investierte Zeit zeigt also eine klare Wirkung.

Natürlich muss diese Zeit sinnvoll genutzt werden, um eine Beziehung aufzubauen. Sie haben ja auch unsere Studien angesprochen – wir versuchen, die Beziehung dort möglichst konstant zu halten. Wenn wir Versuchspersonen haben, dürfen wir mit dem einen nicht über Fußball plaudern und mit der nächsten gar kein gemeinsames Thema finden. Stattdessen müssen wir die Interaktion einheitlich gestalten, auch wenn das für die persönliche Beziehungsgestaltung nicht ideal ist. Aber in Studien, wie der, die ich eben erwähnt habe – bei der ein Arzt mit dem  Patient vor der OP drei Minuten ein Gespräch führt und mit einem anderen 15 Minuten – kann man untersuchen, ob unterschiedliche Formen der Beziehungsgestaltung eine messbare Wirkung haben.

Henrik Schwiedeßen: Meiner Meinung nach auf jeden Fall.

Prof. Dr. Stefan Schmidt: Ja.

Henrik Schwiedeßen: Gesetze in der Medizin berücksichtigen zunehmend das Zusammenspiel von psychischen, körperlichen und sozialen Faktoren. Welche Erkenntnisse lassen sich aus der systemischen Gesundheitsforschung ableiten – und wie hängt das mit dem Placebo-Effekt zusammen?

Prof. Dr. Stefan Schmidt: Die systemische Therapie beschäftigt sich intensiv mit der Frage, wie wir auf das Leben blicken, welche Perspektiven wir einnehmen und ob wir unser Weltbild verändern können. Wenn Sie das mit dem verknüpfen, was wir über Erwartungen besprochen haben, sind wir wieder beim gleichen Thema. Es geht darum, im kommunikativen Raum zu schauen, ob man Patientinnen und Patienten dazu anregen kann, Sichtweisen zu entwickeln, die ihnen mehr Möglichkeiten eröffnen und ihr Leiden verringern.

In der systemischen Therapie arbeitet man viel mit Lösungsbildern. Statt lange zu besprechen, was alles schiefläuft, fragt man eher: "Stellen Sie sich vor, Ihr Problem wäre plötzlich verschwunden. Woran würden Sie das merken? Wie sähe Ihr Leben dann aus?" Der Patient malt sich dann ein positives Bild seiner Zukunft aus, und allein dieser Prozess hat schon eine Wirkung.

Diese Herangehensweise ist sehr nah am Placebo-Effekt. Man kann sie sogar kombinieren – indem man etwa die Zielformulierung mit einer Placebo-Medikation verbindet. Ich kann Ihnen dazu ein Beispiel geben: Ein Kollege aus Bielefeld entwickelt "Lösungsmedikamente" – offene Placebos, die sogenannten Changers. Da gibt es zum Beispiel "Neurelaxil", ein Stressentspannungsmittel. Es kommt in einer Dose mit kleinen Oblaten, auf die man ein Bild drucken lassen kann, das man sich selbst aussucht. Dazu gibt es einen Beipackzettel mit folgender Beschreibung: "Neurelaxil – entspannt Körper und Geist, beruhigt das Nervensystem, fördert das Wohlbefinden bei Stresssymptomen, Unwohlsein und psychischer Belastung. Nebenwirkungen: fördert die innere Balance, erhöht Gelassenheit im Alltag, verbessert das Einschlafen."

Wir haben diese Placebos mit gestressten Studierenden getestet und testen sie nun auch in der Psychotherapie. Sie sind eine Möglichkeit, psychologische Prozesse zusätzlich zu verstärken.

Henrik Schwiedeßen: Ja, vor allem die ersten beiden Beispiele erinnerten sehr stark an reale Medikamente – auch durch die Namensgebung.

Prof. Dr. Stefan Schmidt: Ja, genau. Daran arbeiten wir gerade weiter.

Henrik Schwiedeßen: Sehr gut. Achtsamkeit und therapeutische Rituale werden zunehmend in die Medizin integriert. Welche Rolle spielen achtsamkeitsbasierte Methoden und systemische Ansätze bei der Verstärkung oder Steuerung des Placebo-Effekts?

Prof. Dr. Stefan Schmidt: Achtsamkeit ist ein Ansatz, mit dem man seine innere mentale Ausrichtung bewusst regulieren kann, um sich psychisch – und damit auch physisch – besser zu fühlen. Sie funktioniert allerdings anders als Placebos. Während der Placebo-Effekt oft über Erwartungen und eine vermeintliche Kausalität zwischen Substanz und Wirkung läuft, setzt Achtsamkeit eher auf Präsenz und Akzeptanz. Sie hilft, emotionale Widrigkeiten abzuschwächen und eine entspanntere Grundhaltung zu entwickeln, die langfristig das Wohlbefinden steigert.

Achtsamkeit kann also Stress reduzieren – und Stress hat eine nachgewiesen schädliche Wirkung auf die Gesundheit. Indem Menschen lernen, sich in entspanntere Zustände zu versetzen, trainieren sie sich selbst eine gesündere Haltung an. Das unterscheidet sich von der Placebo-Gabe, wo der Effekt über eine äußere Substanz vermittelt wird. In der Achtsamkeitspraxis geht es vielmehr um die Erkenntnis, dass man selbst über Regulationsmöglichkeiten verfügt, um seine Stimmungen zu beeinflussen und Krisen besser zu bewältigen.

Henrik Schwiedeßen: Sehr gut. Nun eine letzte inhaltliche Frage: Supervision und Coaching für Ärzte und Therapeuten können den Umgang mit Patienten und deren Heilungserwartung verbessern. Welche Bedeutung haben Schulungen und Weiterbildungen für medizinisches Personal, um den Placebo-Effekt – oder allgemeiner die Beziehung zu Patienten – gezielt in der klinischen Praxis zu nutzen?

Prof. Dr. Stefan Schmidt: Wenn Sie sich die Psychotherapieforschung anschauen, dann zeigt sich: Der entscheidende Wirkfaktor ist die Qualität der therapeutischen Beziehung. Diese therapeutische Allianz ist die Trägersubstanz für Veränderung und Heilung. Das gilt nicht nur in der Psychotherapie, sondern auch in der gesamten Psychosomatik und Medizin. Die Beziehungsgestaltung ist das Fundament erfolgreicher Behandlung.

Supervision und Coaching sind dabei essenziell, denn gute Beziehungsgestaltung ist nichts, was sich durch eine einfache Anleitung nach Schema F lernen lässt. Man muss sich kontinuierlich reflektieren und weiterentwickeln. In unserem Institut nehmen wir deshalb Gespräche auf Video auf. Die jungen Psychologen und Psychologinnen analysieren dann in der Supervision, wo sie gut kommuniziert haben und wo es hakte. Das kann manchmal schmerzhaft sein, aber es ist enorm lehrreich. Nur so können sie erkennen, an welchen Stellen sie die Beziehung verbessern und Missverständnisse vermeiden können.

Henrik Schwiedeßen: Sehr gut. Herr Professor Schmidt, Sie arbeiten in einem faszinierenden und wichtigen Bereich der Medizin. Welche Wünsche haben Sie für die Zukunft Ihrer Forschung? Wohin sollte sich dieses Feld weiterentwickeln?

Prof. Dr. Stefan Schmidt: Ich wünsche mir, dass der Fokus in der Medizin stärker auf den Kontext der Heilung gelegt wird. Wir haben gerade eine Untersuchung abgeschlossen, die zeigt: Wenn man die Gesamtwirkung eines Medikaments betrachtet, ist der pharmakologische Effekt oft überraschend klein, während der Placebo-Effekt, die Beziehungsgestaltung und natürliche Heilungsprozesse einen viel größeren Anteil haben.

Mein Wunsch ist, dass wir weniger nur auf Medikamente und Technik setzen, sondern auch in Kommunikation, Beziehungsgestaltung und eine heilungsfördernde Umgebung investieren. Ich glaube, zwei Drittel der Ressourcen sollten dahin fließen – momentan sind die Verhältnisse genau umgekehrt. Es wäre schön, wenn sich das ändert.

Henrik Schwiedeßen Sie sprechen mir aus dem Herzen! Herr Professor Schmidt, vielen Dank für das Gespräch.

Stefan Schmidt Sehr gerne!

Prof. Dr. phil. Stefan Schmidt, geboren am 30. September 1967, ist ein deutscher Psychologe mit Schwerpunkt in systemischer Familientherapie, Achtsamkeit und Meditation sowie Placebo-Forschung. Er studierte Psychologie in Konstanz und Freiburg und schloss 1996 mit dem Diplom ab. Im Jahr 2002 promovierte er in Psychophysiologie an der Universität Freiburg. ​ 

Von 2009 bis 2011 hatte Prof. Schmidt die Heymans-Professur für "Exceptional Human Experiences" an der University for the Humanities in Utrecht, Niederlande, inne. Anschließend war er von 2010 bis 2016 Juniorprofessor für Transkulturelle Gesundheitswissenschaften an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder). Seit 2018 bekleidet er die W3-Stiftungsprofessur für Systemische Familientherapie an der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie des Universitätsklinikums Freiburg. ​

 Seine Forschungsinteressen umfassen die Psychotherapieforschung mit Fokus auf systemische Therapie, die Integration von Achtsamkeit und Meditation in therapeutische Prozesse sowie die Untersuchung von Placebo-Effekten. ​