Skip to main content
Nachrichten aus Region meets Business

„Künstliche Intelligenz kann den Journalismus nicht ersetzen“

Region im Blick im Interview mit Sarah Nagel, Co-Inhaberin der Karlsruher Kommunikationsagentur MINDING GAPS

Was lange Stoff für kühne Science-Fiction-Fantasien war, ist nun plötzlich handfeste Realität: Die Software ChatGPT stellt die Welt der Kommunikation auf den Kopf. Sie schreibt selbsttätig Texte mittels künstlicher Intelligenz.

Sarah Nagel setzt sich intensiv mit der komplexen Thematik auseinander – auch im Namen ihrer Kundinnen und Kunden. Als studierte Journalistin und Marketing-Texterin berät und unterstützt sie mittelständische Unternehmen, Institutionen und Verbände in Fragen der Contentstrategie, Textkonzeption und Unternehmenskommunikation.

Im Interview mit Region im Blick spricht die Co-Geschäftsführerin der Karlsruher Kommunikationsagentur MINDING GAPS über die Auswirkungen von ChatGPT auf Medien und Marketing, Fragen von Qualität und Wahrheit, unterschätzte Risiken und große Chancen.

Frau Nagel, jetzt mal ehrlich: Handelt es sich bei ChatGPT um einen vorübergehenden Hype oder um eine echte Revolution?

Definitiv letzteres. Tools wie ChatGPT sind gekommen, um zu bleiben.

Warum ist ChatGPT so revolutionär?

Aus zweierlei Gründen: Weil es einen Wendepunkt in der Geschichte der künstlichen Intelligenz (KI) darstellt. ChatGPT schafft, woran Entwickler jahrzehntelang gescheitert sind – es besteht den nach einem britischen Mathematiker benannten Turing-Test. Das bedeutet: Es besitzt die Fähigkeit, intelligentes Verhalten zu zeigen, das von dem eines Menschen nicht zu unterscheiden ist. Die Texte, die ChatGPT ausgibt, sind nicht als das Werk einer Maschine zu erkennen. Beziehungsweise erst, wenn man längere Chat-Konversationen mit der KI führt.

Minding Gaps Sarah Nagel

Und was ist der zweite Grund?

ChatGPT rückt künstliche Intelligenz, die ja schon seit den 1950ern erforscht wird, nun zum ersten Mal in ein breites Blickfeld und macht sie für jeden und jede zugänglich: Man kommuniziert mit der KI über einen Chat, wie wir ihn von WhatsApp oder anderen Messengern kennen. So lassen sich der KI Aufgaben stellen, beispielsweise „Nenne mir fünf gute Gründe, nach Paris zu reisen“, „Schreibe mir einen 600 Wörter langen Text zum Thema Windkraft“ oder sogar „Verfasse ein trauriges Gedicht über die Alpen, in dem die Begriffe ‚Skilift‘ und ‚Wanderweg‘“ vorkommen. Einfacher geht es nicht! Ich empfehle, ChatGPT einfach mal spielerisch zu erkunden und sich selbst ein Bild von den Möglichkeiten zu machen.

Wie werden sich Journalismus und Unternehmenskommunikation durch ChatGPT verändern?

Wir werden eine riesige Flut KI-generierter Texte erleben. Von Nachrichtenmeldungen über Magazinartikel, von Blogcontent zu Social-Media-Posts bis hin zu ganzen Unternehmenswebsites. Mit ChatGPT und Co. – es gibt ja viele weitere Text-KI-Projekte – sinkt der Aufwand für die Texterstellung auf ein Minimum. Wo sich bislang Menschen stundenlang den Kopf zerbrochen haben, ist das Ergebnis nun binnen Sekunden verfügbar. Derzeit liefert ChatGPT in Englisch noch deutlich bessere Ergebnisse als auf Deutsch. Aber das wird nicht so bleiben. Allgemein wird sich die sprachliche wie inhaltliche Qualität der KI-Texte stetig verbessern.

Das bedeutet also für all diejenigen, die beruflich mit Text zu tun haben: Die Bedrohung des eigenen Arbeitsplatzes durch die KI besser ignorieren, damit die letzten Jahre der Berufstätigkeit nicht zu sorgenschwer ausfallen?

Klar, man kann die Augen vor dem radikalen Wandel verschließen und einfach weitermachen wie bisher. Ich halte das allerdings für keine gute Idee. Da hilft auch ein Blick zurück in die Geschichte: Denken wir an legendäre Aussagen wie „Das Pferd wird es immer geben. Autos sind nur eine vorübergehende Modeerscheinung“ (der Präsident der Michigan Savings Bank 1903). Oder „Ich denke, dass es weltweit einen Markt für vielleicht fünf Computer gibt“ (der IBM-Vorstand 1943).
Die Fortschrittsskeptiker standen auf lange Sicht immer auf verlorenem Posten. Denn wenn eine Technologie neue, zuvor unvorstellbare Möglichkeiten bietet und dabei leicht zu bedienen ist, wird sie sich auch durchsetzen. Das zeigt auch die Tatsache, dass ChatGPT innerhalb von zwei Monaten auf 100 Millionen User gewachsen ist – das Telefon hat dafür 75 Jahre gebraucht. Gleichzeitig bin ich aber fest davon überzeugt, Journalistinnen und Marketing-Texter werden durch die KI nicht überflüssig werden.

Wie kommen Sie zu dieser Annahme?

Bei allem Lobgesang, den ich eben auf die KI angestimmt habe, muss man auch die gravierenden Nachteile sehen:
Eine KI arbeitet nie objektiv. Sie lernt ihre Fähigkeiten aus Abermillionen von Texten, den sogenannten Trainingsdaten. Deren Auswahl liegt in der Hand des jeweiligen Betreibers. Und diese Auswahl wiederum bestimmt, welche Sichtweisen ChatGPT und Co. in ihren Aussagen zu gesellschaftlichen, politischen oder wirtschaftlichen Themen vermitteln. Zudem wird die KI von den Eingaben und dem Feedback der Userinnen und User beeinflusst – nicht immer zum Guten.

Was heißt das genau?

Zwei Beispiele: 2016 veröffentlichte Microsoft die KI Tay, die von den Nutzerinnen und Nutzern mit allerlei Pöbeleien und extremen Ansichten gefüttert wurde. Tay begann, auf Twitter rassistische und antisemitische Botschaften zu verbreiten und musste nach wenigen Stunden abgeschaltet werden.

Bei ChatGPT wiederum sorgte ein Nutzervideo für Aufsehen, in dem der KI so lange vermittelt wurde, 2 plus 2 sei 5, bis sie nicht mehr widersprach und das als mathematisch korrekt bestätigte. Und auch ohne solche manipulativen Usereingaben lügt der Chatbot ab und zu – was der Betreiber OpenAI sogar ganz offen zugibt.

Das ist brandgefährlich, zum Beispiel mit Blick auf die objektive Berichterstattung. Deswegen brauchen wir den Journalismus, der sich ja idealerweise aus dem Streben nach Wahrheit und Objektivität definiert. Es ist essenziell wichtig, die Qualität der Berichterstattung zu sichern, die die Gesellschaft informiert, bildet und voranbringt. Allein schon deshalb steht für mich fest: KI kann den Journalismus nicht ersetzen.

Und welche Auswirkungen hat eine KI auf das Marketing von Unternehmen?

ChatGPT imitiert Bekanntes, basierend auf den eingespeisten Daten. Die eben schon erwähnte Flut KI-generierter Texte wird sich daher stilistisch und argumentativ kaum voneinander unterscheiden, wir erleben den Sieg der Mittelmäßigkeit, bekommen einen sprachlichen Einheitsbrei. Für Unternehmen ist das fatal – schließlich wollen diese sich ja gerade mit Alleinstellungsmerkmalen und einem individuellen Markenauftritt von ihren Wettbewerbern abheben.

Sie haben den Einfluss der eingespeisten Daten auf die von der KI ausgegebenen Ergebnisse erwähnt. Was bedeutet das für unseren künftigen Umgang mit der KI als Informationsquelle und Hilfsmittel bei der Texterstellung?

Wir werden uns kritisch mit der Frage beschäftigen müssen, welche Intention deren Betreiber verfolgen. Geht es um einen selbstlosen Dienst an der Menschheit im Namen des Fortschritts? Oder stecken nicht eher auch finanzielle Interessen dahinter? Welche neuen Geschäftsmodelle werden entstehen?

Wo es heute Werbung in Suchmaschinen gibt, kann man vielleicht irgendwann als zahlungskräftiger Großkonzern Einfluss auf die Trainingsdaten nehmen. Die Folge: Die KI bevorzugt dessen Produkte oder lässt ihn in einem besonders guten Licht dastehen. Sollte ChatGPT oder irgendein Wettbewerber zum nächsten Amazon, Google oder Meta (Facebook, WhatsApp & Instagram) werden und eine globale Monopolstellung in seinem Bereich einnehmen, wird diese Monopolstellung eine meinungs- und marktprägende Macht haben, die wir uns noch gar nicht vorstellen können.

Wenn wir heute Suchmaschinen nutzen, haben wir zumindest noch die Möglichkeit, verschiedene Angebote und Suchergebnisse mehr oder weniger objektiv zu vergleichen. In einer Welt, in der das Ausgabe-Fenster der KI die Suchmaschine abgelöst hat, wird das nicht mehr möglich sein.

Eröffnen sich da nicht auch völlig neue Möglichkeiten der Manipulation für autokratische Systeme?

Definitiv. Wo man heute aufwändig das Internet zensieren muss, setzt man der Bevölkerung künftig einfach eine KI mit tendenziös ausgewählten Trainingsdaten vor.

Sehen Sie weitere Herausforderungen?

Ein Thema, das ich nur kurz anschneiden möchte: In Wissenschaft und Lehre stellt die KI alles auf den Kopf. Von den Hausaufgaben über das Referat im Proseminar bis hin zur Doktorarbeit: Die Bewertung von Quellen, geistiger Eigenleistung und Erkenntnisgewinn muss künftig ganz neu vermittelt und gelehrt werden.

Worüber derzeit noch kaum diskutiert wird, ist auch die Frage des Urheberrechts: Wem gehören Texte, die mit ChatGPT erstellt wurden? Wer kann journalistische Texte monetarisieren? Ist es noch das Medienunternehmen, das ChatGPT nutzt oder beansprucht der Betreiber der KI dieses Recht künftig für sich?

Medienunternehmen sind ein gutes Stichwort. Lassen Sie uns den Bogen zurück zum Journalismus spannen: Wird der „Sieg der Mittelmäßigkeit“, wie Sie es nennen, dauerhaft Bestand haben?

Ich denke, wir werden nach einer ersten Euphorie eine Gegenbewegung erleben, die die Qualität der Inhalte wieder in den Mittelpunkt rückt. Die Aufgabe des Journalisten ist es ja nicht nur, Informationen zu sammeln, sondern auch, sie zu analysieren und einzuordnen. Das wiederum kann nur ein Mensch erfüllen, der in der Lage ist, komplexe Zusammenhänge zu verstehen und zum Beispiel Fake News zu entlarven. Dabei gilt es, ChatGPT und Co. nicht zu verteufeln, sondern – klug angewendet – als wertvolles Hilfsmittel zu etablieren: etwa bei der Ideenfindung, um Gedanken zu sortieren oder um komplexe Daten und Inhalte zu strukturieren. Der so eingesparte Arbeitsaufwand schafft die Zeit und Ressourcen, um sich noch stärker auf die tiefergehende Recherche und Analyse von Themen fokussieren zu können.

Mein Fazit in Sachen Journalismus: ChatGPT ist zweifelsohne ein nützliches Werkzeug, darf aber nie die Rolle des Journalisten ersetzen. Wir müssen sicherstellen, dass wir unsere Fähigkeiten als unabhängige Denker und Rechercheure behalten. Denn am Ende des Tages ist es die Aufgabe des Journalismus, Fakten zu recherchieren, sie ausgewogen zu beleuchten und der Leserschaft anschaulich zu vermitteln, damit diese sich ihre eigene Meinung bilden kann.

Tobias Vasen und Sarah Nagel von Minding Gaps

Und was raten Sie als Agenturinhaberin Unternehmen für die künftige Ausrichtung ihres Marketings?

Hinsichtlich einfach strukturierter Content-Formate – wie etwa Blogartikel mit eher lexikonartigem Charakter – wird ChatGPT in Marketingabteilungen Aufwand und Kosten senken. Die dadurch freiwerdenden finanziellen Mittel lassen sich dann in Premium-Content investieren. Denn mehr denn je wird es darauf ankommen, sich von der gesichtslosen Masse abzuheben, einen bewussten Kontrapunkt zur Beliebigkeit und Austauschbarkeit KI-generierter Texte zu setzen.

Es geht um echte Geschichten, Emotionen und Originalität. Formate wie Interviews, Reportagen oder Anwenderberichte werden enorm an Bedeutung gewinnen. Denn am Ende kommt es doch darauf an, Unternehmen, Produkten und Dienstleistungen ein Gesicht zu geben. Sie anhand derer greifbar zu machen, die sie Tag für Tag entscheidend prägen – die Menschen.


  

KONTAKT

Minding Gaps Sarah Nagel & Tobias Vasen GbR

Alter Schlachthof 39

Container F2

76131 Karlsruhe

www.mindinggaps.de

 

Auch interessant:

Anzeige

Anzeige